Warum ich meine Oma nicht pflegen möchte

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Meine Oma hat sich vor 5 Wochen ein neues Knie installieren lassen, altes raus, neues rein. Diese Woche kehrte sie aus der anschließenden Reha zurück und seitdem bin ich ein Taxi. Sie kann einigermaßen laufen, Autofahren ist aber nicht drin. Ich könnte jetzt schreiben, wie sie den Arzthelferinnen auf den Sack gegangen ist oder wie sie beim Einkaufen durch die Gegend wackelt… möchte ich aber nicht. Ich schreibe, warum ich in den Augen meiner Familie bestens geeignet bin, für den Job als unentgeltliche Altenpflegerin und, warum ich ihn nie wieder machen möchte.

Ich habe bereits meine Oma väterlicherseits gesund totgepflegt. Fünf Jahre lang, angefangen habe ich mit 16 und kaum hatte ich mit 18 den Führerschein, übernahm ich es quasi vollständig. Ich hatte Glück: bis kurz vor ihrem Tod war sie noch in der Lage, sich selbst anzuziehen und zu waschen. Zum Putzen hatte sie eine Putzfrau angestellt, somit blieben Arztbesuche und Einkaufengehen für mich übrig, sowie dafür zu sorgen, dass sie wenigstens noch etwas am Leben teilnehmen kann.

Als ich ungefähr 12 war, musste meiner Oma ein Unterschenkel amputiert werden. Sowas passiert, wenn man 50 Jahre lang zwei Schachteln Kippen inhaliert. Bis dahin war sie eigentlich sehr aktiv gewesen; hatte bis zuletzt noch Seniorensport getrieben, war allein mit dem Bus in die Stadt gefahren oder hatte Fahrradtouren gemacht. Auch hatte sie – anders als meine Oma mütterlicherseits – ihr ganzes Leben lang gearbeitet, wie es damals in der DDR auch für Frauen üblich war (während hier im Westen auch heute noch viele Mütter nur Teilzeit oder gar nicht arbeiten). Anfangs war sie Tierpflegerin im Zoo, später Artistin und Dompteurin im Zirkus. Bis sie sich von einem Clown schwängern lies und über die Schweiz – dem Zirkus sei Dank – nach Westdeutschland ausreisen konnte. Da der Clown wohl nicht sonderlich heiratswillig war, heiratete sie hier einen Stahlarbeiter und bekam mit ihm zwei weitere Kinder, meine Tante und Onkel. Sie ging weiterhin in einer Fabrik arbeiten, hatte mehrere Hörstürze wegen der dort herrschenden Lautstärke und verlor ihren Mann letztendlich Ende der 80er-Jahre an den Krebs und ihren Sohn (meinen Onkel) an die Drogen und Kriminalität. Meine Tante brach später ebenfalls den Kontakt ab, wegen eines lächerlichen Streits – aber sie hat auch zu mir den Kontakt auf ein Nötigstes beschränkt, nachdem sich meine Eltern trennten, daher vermute ich, dass sowas einfach in ihrer Natur liegt…

Seitdem lebte meine Oma allein mit einer schwarzen Katze (diese wurde üblicherweise durch ein identisches Exemplar ersetzt, wenn sie starb) namens Minka (ja, sie hießen alle Minka) in einer zwei-Zimmer-Wohnung, die sie nach dem Verlust ihres Beines nicht mehr allein verlassen konnte. Die Treppen vor der Haustür waren ein unüberwindbares Hindernis, wenn sie keine Hilfe hatte. Hörgeräte hatte sie wegen der Hörstürze schon seit Jahren aber auch ihre Augen wurden immer schlechter, ein Loch auf der Netzhaut, genau beim Zentrum für scharfes Sehen, nahm ihr das Fernsehen und die Bücher. Lupen halfen bald nicht mehr und ein Bildschirmlesegerät (damit wird ein Buch oder eine Zeitung abgefilmt und auf einen Bildschirm übertragen, um eine starke Vergrößerung zu ermöglichen) überforderte und verwirrte sie. Abends trank sie regelmäßig um schlafen zu können und fackelte beinahe ihre Wohnung ab, weil sie im Bett rauchen für eine gute Idee hielt. Ich denke, es handelte sich um erste Anzeichen von Demenz, die bald fortschritt. Sie kannte die Bezeichnungen für Dinge nicht mehr, eine Fernbedienung nannte sie „Handy“, mich sprach sie mit dem Namen meiner Tante oder Cousine an, der Putzfrau gab sie zuviel Geld weil sie sich nicht mehr erinnerte, ob sie sie schon bezahlt hatte (selbige nutzte das natürlich nach Strich und Faden aus und verließ fluchartig die versiffte Wohnung, als ich sie mal abfing). Später warf sie mir vor, sie zu bestehlen, wir stritten viel, sie schmiss die mitgebrachten Einkäufe auf den Küchenboden, wo die Gläser zerbrachen, ich knallte die Wohnungstür hinter mir zu und stürzte auf die Straße… und musste trotzdem immer wieder kommen, weil sie niemand anderen hatte, den sie hätte anrufen können, der die Scherben zusammenkehrte und nochmal einkaufen ging. Wir aßen Eis oder tranken Kaffee zusammen, ich erklärte ihr das Internet, zeigte ihr Fotos von meiner Wohnung, die sie nie betreten konnte, der vierte Stock war weit außerhalb ihrer Reichweite. Weihnachten 2008 verbrachten mein Vater und ich noch bei ihr, kurz darauf kam sie erneut ins Krankenhaus. Sie verirrte sich in den Gängen, war völlig durcheinander, erkannte mich nicht mehr und starb am 14. Februar 2009.

Schon während ich sie pflegte, befanden meine Mutter und Oma mütterlicherseits, dass ich die perfekte Altenpflegerin sei, weil ich mich von dem, was meine Oma tat, so gut distanzieren konnte… (musste?). Und so wird mir diese Aufgabe wohl zumindest auch bei meiner anderen Oma zu Teil werden, es zeichnet sich ja bereits ab. Für viele Familien ist es selbstverständlich, Angehörige selbst zu pflegen. Ich kann davon nur abraten. Nicht, weil es anstregend ist. Nicht, weil man abstumpft. sondern, weil es die Erinnerungen an den Menschen verändert. Ich sagte bereits am Abend ihres Todestages zu meinem besten Freund, ich habe Angst, mich nie wieder so an sie erinnern zu können, wie sie vor „alldem“, vor der Demenz, vor der Gebrechlichkeit, war. Wenn ich mich darauf konzentriere, wie ich sie als Kind empfunden habe, glaube ich, dass sie warm war und immer Respekt vor mir hatte… obwohl sie immer sagte, sie habe Tiere lieber gehabt als Kinder, überging sie mich nie und verteidigte mich häufig vor meiner Mutter. Aber konkrete Erinnerungen fehlen, dafür sind die an die letzten Jahre zu prägnant…

Daher möchte ich meine andere Oma nicht pflegen. Nicht mehr, als so gerade eben nötig. Aber erklär das mal jemandem… weder sie noch meine Mutter werden es verstehen, für beide sieht’s nach Faulheit und Unwillen aus, nach einer Ausrede…

Vielleicht blogge ich bald über die Arztbesuche mit meiner Oma. Über die vielen humorvollen Situationen die trotz des Elends dabei entstehen, einen Einblick in meine Distanz…

8 Kommentare

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  • Ein wunderbarer Artikel. Ich renne selbst weg, vor diesem Grauen. Vor meinem verstorbenen Großvater, den ich nicht mehr besuchen konnte, weil er nach am Bett sitzend 3 x in 5 Minuten die gleichen Fragen stellte, von meiner Großmutter, die mich in meinen Kindertagen nach dem Kindergarten und während der Grundschulzeit sowie an Wochenende fürsorglichst mit aufzog und mir all das gab, was sonst nicht da war, jetzt aufgrund seit Jahren fortschreitender Demenz sich jedoch all zu sehr verirrt und, leider auch, sofort alles vergisst, was man ihr sagte.

    Eine Lösung weiß ich einfach nicht, ich verstehe nur, dass es auch für mich das Beste ist, diesem geliebten Familienteil fernzubleiben, um die Innerungen von damals im Vordergrund zu belassen. Ob das nun die bessere Wahl ist … zumindest ist es komisch, sich von allem fernhalten zu wollen, da man Angst hat, diese Demenz auch nur zu erleben/erfahren und man sich leider all zu sicher sein kann, das die Teilhabe am Leben des Anderen ebenso vergessen wird.
    Ich muss aber auch dazu sagen, dass ich in einer eindeutig „besseren“ Position bin, da ich keine Verantwortung habe, da ich nicht gebeten werde, auch nur einkaufen zu gehen oder andere Dinge für sie zu tun.
    Mir graut es jetzt schon, an den Geburtstag meiner Nichte nächste Woche zu denken, an der ich dieses wandelnde Leid erneut sehen muss.

    • Danke schön.

      Ich kann’s gut verstehen, dass du dir das nicht anschauen möchtest. Es führt einem auch immer wieder vor Augen, wie zerbrechlich das eigene Selbst ist… etwas zuviel von Botenstoff X und ein paar Nervenzellen zu wenig und schon ist das, was einen ausmacht, die eigene Identität – Erinnerungen, Persönlichkeit, Wissen – verschwunden. Gruselige Vorstellung.

      Ich find’s nicht egoistisch oder so, dass du dich davon fernhältst. Es ist zwar nett, jemandem ’ne Freude zu machen, aber zu welchem Preis? Leider verstehen viele das falsch, dass man sie so in Erinnerung behalten möchte, wie sie waren, eben weil man sie liebt und es nicht Faulheit oder Aberscheu oder sonst was ist, das einen von ihnen fernhält.

  • Ein sehr ehrlicher und guter, wenn auch irgendwie trauriger Beitrag.
    Gut, weil ich es gut finde, dass du so offen über deine Meinung und Gefühle schreibst. Traurig auf mehrere Arten. Dass du bereits so schmerzliche Erfahrungen mit deiner Oma machen musstest und nun bei der anderen Oma vielleicht davor stehst, aber auch dass dir diese Verantwortung „auferlegt“ wird, obwohl du damit nicht klar kommst, und meiner Meinung nach auch gar nicht klar kommen musst wenn du das nicht möchtest. Aber du hast Recht: Es ist schwer, dass zu vermitteln, ohne jemanden zu beleidigen oder vor den Kopf zu stoßen.

    Ich war bisher auch noch nie in deiner Situation, allerdings war es auch sehr schwer für mich, zu erleben, wie mein Opa zusehends unter der Demenz verschwand :( Vor zwei Wochen ist er gestorben, und auch wenn ich sehr traurig war und bin, weiß ich, dass es für ihn eine Erlösung war, weil er sein Leben nicht mehr selbst gestalten konnte, ja nicht mal mehr verstehen konnte.

    Ich konnte bspw. meinen Vater auch nicht auf der Intensivstation besuchen nachdem er einen schweren Unfall hatte. Er hatte mehrere Knochenbrüche und Prellungen – auch im Gesicht (Jochbein, Nasenbein) und war nicht ansprechbar. So lange er nicht über den Berg war, wollte ich ihn nicht besuchen weil ich dieses Bild von ihm nicht in meiner Erinnerung haben wollte. (Zum Glück geht es ihm heute wieder gut!)

    • Vielen Dank für deinen Kommentar. Dass dein Opa gestorben ist, tut mir leid – auch, wenn es vielleicht „besser“ war… Ich denke, ich würde meine Verwandten letztendlich aus „Pflichtbewusstsein“ besuchen und ich werde wohl auch meine andere Oma pflegen. Weil ich nicht Nein sagen kann, wenn man mich zu sowas auffordert.

      Es ist bestimmt auch was anderes, ob man mit Anfang 20 einen Verwandten pflegt oder später, wenn es die eigenen Eltern sind, die gebrechlich werden, man selbst älter ist, vielleicht eine eigene Familie hat, einen Rückzugsort… von 16 bis 21 verändert sich soviel und man ist selbst noch nicht erwachsen…

  • Servus, Mara.
    Ich denke ein Film wie ‚Iris‘ umfaßt Deine Gefühle, Befürchtungen und Intensionen sehr deutlich. Ein grausames „Spiel“ der Natur, Menschen ihre Persönlichkeit zu nehmen.

    „Leben ist wie der Schrei in luftleerer Finsternis. Unerhört.“
    (Saoirse O’Boinor)

    bonté

  • Faulheit und Dummheit, die sie bei sich selbst wohl nicht bemerken…

    Jeder, der mit immer rapide abbauenden, alten Menschen oder beispielsweise stark geistig behinderten Menschen oder sonst was gearbeitet hat, weiß, was Leid und Degeneration bedeutet, und dass das, was wir als Charakter bezeichnen nun einmal wohl eine Komposition aus Hirnmasse ist… Sobald diese verfällt, ist der Mensch, den wir als Großmutter, guten Freund, Geliebte, als eigenes Kind kannten, nicht mehr da.
    Manchmal, in den extremsten Fällen, ist Pflege leider nichts weiter als ein Finanz-Projekt der Krankenkassen und scheinheiliges Wahren vermeintlicher Menschenwürde…
    Insbesondere, wenn man die Menschen zuvor gekannt, geliebt hat und weiß, welchen Verlauf die Pflege nehmen wird, im Falle von schwerer Demenz oder Ähnlichem, ist nichts Verwerfliches daran, die Pflege abzugeben. Das ist kein Aufruf, Omi ins Heim zu schieben, sobald wie möglich. Es gibt hier unendlich viele Nuancen und Grautöne…

    Vielleicht kann die Last geteilt werden, in Deinem Falle wohl nicht sehr wahrscheinlich leider, Mara… vielleicht kann man sich professionelle, ambulante Hilfe holen… auch wohl eher unwahrscheinlich hier.

    Aber die Bürde alleine zu tragen, macht aus diversen Gründen keinen Sinn… Der Mensch ist mitunter einfach nicht mehr der Mensch, den man liebte. Sondern ein anderer, vielleicht nicht einmal wirklich eine Person. In diesem Falle ist es eine enorme, emotionale Belastung, die mir schon teilweise sehr auf ’s Gemüt geschlagen hat, wenn es „nur“ um Fremde ging, schwerst behinderte Kinder.
    Man fragt sich, was man tun kann, ob er/sie überhaupt was mitkriegt, ob es nicht nur Quälerei ist, ob man irgendwas falsch macht, sich mehr aufopfern muss…
    Also wer auch immer der Meinung sein sollte, dass man eine moralische Verpflichtung hat, stark eingeschränkte Familienmitglieder zu Hause zu pflegen, der hat halt noch nie gepflegt und urteilt aus Bequemlichkeit heraus. Das ist nicht das Interessante an der Geschichte/ Schilderung hier. Das „Interessante“ ist wahrscheinlich eher die naive oder bewusste Ignoranz Deiner Mutter, die sich mal wieder ’n Jux daraus macht, ihre Tochter für etwas abzukommandieren, was eigentlich eher in ihren Aufgabenbereich fallen würde. Traurig. Armselig. Nun ja. Noch trauriger: nichts wirklich Überraschendes.

    Eine ehrliche, aufrichtige Schilderung, aber das muss wie gesagt gar nicht erwähnt werden. Das weiß man halt, wenn man selbst bereits gepflegt hat und sich dieser Bürde bewusst ist… für alle Beteiligten.

    Memento mori und viele Glückskekse.

    • Danke für deinen Kommentar.

      Du schreibst, im Falle von schwerer Demenz sei es nicht verwerflich, die Pflege abzugeben- meine Oma ist nicht schwer dement. Meine andere Oma war es, diese, die jetzt noch lebt, ist es m. E. (noch) nicht… gilt das in diesem Fall auch? Sie ist ja durchaus noch der Mensch, der sie früher war bzw. schon immer ist und ob sich daran was ändern wird, ist auch nicht vorauszusehen.

      Grüße und Blümchen.

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